Sicherheitstechnik aus der Prozessindustrie verhindert Virusverbreitung

25. März 2021
Prozesstechnik bekämpft Pandemie

Wer Gefahrenfrüherkennung betreibt, ist ein gern gesehener Gast in Chemieanlagen und ihren Leitwarten. Wenn sich die Erkenntnisse aus der Überwachung von Reaktoren und Abgasfackeln dann auch noch auf den Schutz Tausender Menschen in einer Pandemie übertragen lassen, reißen die Einladungen zu Pilotanwendungen nicht ab. Das zeigt das Beispiel einer automatischen Körpertemperaturkontrolle für Personenschleusen zur Eindämmung der Coronapandemie.

Die Hand geht routiniert zur Alltagsmaske, die am Innenspiegel des Dienstwagens baumelt. Noch ein Griff in den Kofferraum und schon geht es samt Werkzeugtasche in Richtung Werkstor der Chemiefabrik. Im Kopf geht der Techniker noch einmal seinen Auftrag zur Kalibrierung von Durchflussmessgeräten durch. Dass er sich seit Kurzem nicht 100%ig wohlfühlt, einen leichten Husten und Schnupfen hat, blendet er aus. Zu wichtig ist der Einsatz heute, zwar ein Routinejob, dennoch dringend, da der Kunde ein enges Arbeitsfenster definiert hat. Jetzt gilt kein Schwächeln, denkt er noch, als er am blockierten Drehkreuz von einem freundlichen Kollegen des Werksschutzes in die Pforte gebeten wird: Eine Messung habe eine erhöhte Körpertemperatur festgestellt, die überprüft werden solle. So wie sich in dieser erdachten Szene der Mitarbeiter aus einem Pflichtbewusstsein heraus selbst und andere in Gefahr gebracht hat, empfinden viele. So menschlich das Ignorieren von ersten gesundheitlichen Erkrankungssymptomen auch erscheinen mag, ist die Gefährdung Anderer im Rahmen einer Pandemie dennoch nicht tragbar. Aus Sicht der Verantwortlichen in Großbetrieben gilt es daher, mit geeigneten Maßnahmen alle im Betrieb Anwesenden vor der Ansteckung mit SARS-CoV-2 zu schützen. Eine effiziente Methode hierzu, die sich auch bei großen Menschenmengen eignet, wurde jüngst von TTS Automation in Zusammenarbeit mit Automatisierungsexperten von WAGO Kontakttechnik entwickelt und im Markt eingeführt.

Gründe für WAGO:

  • Gefahrenfrüherkennung mit Hilfe von industriellen Thermalkameras
  • Automatische Körpertemperaturkontrolle mittels Prometheus Personenschleuse

  • System funktioniert nur in Kombination von industrieller Kameratechnik und intelligenter Steuerung

  • Direkte Kommunikation mit der Kameraelektronik dank WAGO Digital Plant Gateway

Unser Schwerpunkt ist die Gefahrenfrüherkennung mit Hilfe von industriellen Thermalkameras. Wir erkennen Situationen, bevor sie zur Gefahr werden.

Thomas Striegel, Geschäftsführer von TTS Automation

Überwachung aus der Ferne

„Unser Schwerpunkt ist die Gefahrenfrüherkennung mit Hilfe von industriellen Thermalkameras. Wir erkennen Situationen, bevor sie zur Gefahr werden“, erklärt Thomas Striegel, Geschäftsführer von TTS Automation, woher seine Kompetenz zur berührungslosen Temperaturmessung stammt. Ein Beispiel: sogenannte Notfackeln in der chemischen oder petrochemischen Industrie. Sie müssen rund um die Uhr laufen, damit in einem Störungsfall chemische Verbindungen nicht ungehindert und unkontrolliert in die Atmosphäre gelangen, sondern vorher verbrannt werden. So ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass eine Zündflamme in der Fackel dauerhaft in Betrieb ist. Zur Überprüfung der Funktionsfähigkeit sind zwar Thermoelemente installiert, die jedoch hin und wieder ausfallen. Das Problem liegt darin, dass deren Austausch weder im laufenden Betrieb noch über einen Anlagenstillstand infrage kommt. „Unsere Kameratechnik ist hier die Lösung. Sie überwacht die Flamme ohne Eingriff in den laufenden Betrieb“, erklärt Striegel seinen Beitrag zur Sicherheit.

Das System funktioniert jedoch nur in der Kombination von industrieller Kameratechnik und intelligenter Steuerung und ohne einen Zufall hätte es das Produkt in dieser Form beinahe nicht gegeben: „Zur Realisierung unserer Produktidee waren wir vor einigen Jahren auf der SPS in Nürnberg auf Partner-Suche. Nach mehreren enttäuschenden Gesprächen hätten wir beinahe aufgegeben, landeten schließlich am WAGO Messestand. Auch hier war die Lösung nicht sofort offensichtlich. Erst nachdem das Stichwort BASF fiel und sich Wolfgang Laufmann, Global Key Account Manager Chemie bei WAGO, ins Gespräch einschaltete, löste sich der Knoten“, erinnert sich Striegel. Über die Gemeinsamkeit desselben Kunden und ähnlicher technischer Herausforderungen kam auch die gleiche Philosophie beim Umgang mit dem Thema Industrie 4.0 hervor. „Wir lebten digitale Denkweise schon Jahre, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Und bei WAGO ist das auch der Fall“, beschreibt Striegel die Gemeinsamkeiten. Beide Unternehmen seien es gewohnt, Sensoren intelligent miteinander zu kombinieren und daraus Schlussfolgerungen an ein Prozessleitsystem (PLS) zu übermitteln.

Das fehlende Puzzlestück war das „Digital Plant Gateway“ von WAGO. Es erfasst Messwerte aus der Anlage, bereitet sie auf und stellt sie im IT-Netzwerk oder der Cloud den jeweiligen Anwendergruppen zur weiteren Analyse und zur Optimierung der Prozessabläufe zur Verfügung. Es basiert auf dem WAGO I/O System, das mit seinen über 500 unterschiedlichen I/O-Modulen die verschiedensten Feldsignale skalierbar erfassen kann. „Als Ergebnis dieser Zusammenarbeit versetzt uns die WAGO Steuerung in die Lage, direkt mit der Kameraelektronik zu kommunizieren. Die Software für unsere Kamera läuft auf dem WAGO Knoten, es ist kein Übersetzer notwendig, es müssen keine Kontakte übergeben werden oder Verdrahtungen vorgenommen werden. Das Gateway spricht die gleiche Sprache wie unsere Kamera. WAGO ist tatsächlich der Einzige, der das kann“, sagt Striegel.

Die WAGO Steuerung versetzt uns in die Lage, direkt mit der Kameraelektronik zu kommunizieren. Das Gateway spricht die gleiche Sprache wie unsere Kamera. WAGO ist tatsächlich der Einzige, der das kann.

Thomas Striegel, Geschäftsführer von TTS Automation

Mit großen Menschenmengen umgehen

Doch wie kam es nun zum Einsatz dieses Kooperationsergebnisses im Zusammenhang mit der Coronapandemie? Ursprung hier war die Diskussion in einem Arbeitskreis aus Physikern, Ingenieuren und Technikern, die sich u. a. mit Prozessvisualisierung beschäftigen. Als die Coronapandemie um sich griff, kam in dieser Runde auch das Thema der Einlasskontrolle durch Fiebermessungen auf. Die Skepsis war groß, dass die zu dem Zeitpunkt eingesetzten Methoden bei großen Menschenmengen funktioniert. Bei manchen Kunden beispielsweise gehen mehrere tausend Menschen jeden Tag durch wenige Tore ein und aus. „Wie soll das gehen, wenn jeder einzeln mit einem Fieberthermometer überprüft werden soll?“, fragt Striegel. Erste Meldungen über Verkehrschaos vor Werkstoren aufgrund der Wartezeit bei derartigen Messungen ließen dann auch nicht lange auf sich warten.

Doch die Experten diskutierten ebenfalls die grundsätzliche Aussagekraft einiger Methoden. Vor allem die Messung der absoluten Körpertemperatur mit normalen Thermalkameras wurde in der Runde als kritisch beurteilt: „Wir wissen, dass das nicht funktionieren kann“, sagt Striegel und erklärt: „Diese Handscanner zum Fiebermessen addieren schlicht zum eigentlichen Messwert vier Grad Celsius aufgrund des Unterschiedes zwischen Kern- und Oberflächentemperatur. Das ist zwar normgerecht, aber falsch. Es würde nur funktionieren, wenn sich der Betroffene eine längere Zeit bei normaler Raumtemperatur akklimatisieren würde.“

Der Zufall brachte die Lösung, denn das Team von TTS Automation hatte erst wenige Tage vor den Diskussionen eine neue Abgasfackel-Überwachung in Betrieb genommen. „Die Messfehler, die uns hier begegneten, brachten uns auf die Idee, unser Konzept so anzupassen, dass es auch Anomalien bei Körpertemperaturen ermitteln kann“, sagt Striegel. Statt alles daran zu setzen, Fehler zu vermeiden, umarmt er sie lieber: Unabhängig, ob die Kamera eine Fackel oder einen Reaktor überwacht, ein solches Messsystem produziert Fehler. Das kann der Fall sein aufgrund von Wettereinflüssen oder Dampfschwaden aus der Anlage.

Bei der Gefahrenfrüherkennung geht es Striegel jedoch nicht um die absolute Temperatur: „Wir wollen mit unserer Technik erkennen, ob eine innere Isolierung eines Reaktors noch intakt ist, eine Reaktion in den geplanten Wegen verläuft oder eine Sicherheitsflamme plötzlich erlischt. „Wenn wir also falsch messen, aber immer gleich falsch messen, kann unser stochastischer Algorithmus die falsche Messung auswerten und daraus eine korrekte Störmeldung generieren“, erklärt Strigel. Und im Fall der Schleuse wurde der seit 2016 erfolgreich eingesetzte Algorithmus des Thermalkamerasystems gemeinsam mit WAGO für die neue Situation erweitert und angepasst. Nun erkennt das System namens Prometheus zuverlässig erhöhte Hautoberflächentemperaturen – im Innen- wie im Außenbereich und unabhängig von Wind, Umgebungstemperatur oder anderen Einflüssen.

Messung ersetzt nicht den persönlichen Kontakt

Prometheus erkennt im Zusammenspiel aus Kamera und vorkonfektioniertem „Digital Plant Gateway“ eine zu hohe Körpertemperatur als Anomalie und agiert vollautomatisch. In diesem Fall blockiert Prometheus das Eingangsdrehkreuz. Der Mensch wird aber nicht allein gelassen, denn nach der Warnmeldung folgt ein klärendes Gespräch, inklusive manueller Fiebermessung. So zumindest ist es laut Striegel bei den mittlerweile vielen verschiedenen Anwendungen üblich: Krankenhäuser, Baustellenüberwachung, große Lebensmittelverarbeiter sowie Chemieparks handhaben es ähnlich.

Aufgrund des gemeinsamen Erfolges sind die nächsten Schritte bereits in Arbeit: Ein Team aus WAGO und TTS-Ingenieuren ist momentan dabei, den ursprünglichen Einsatz des Kamerasystems in der Produktion weiter zu optimieren. So wird bald die Kommunikation zwischen Kameratechnik und PLS über den WAGO Knoten abgewickelt und auch das Kamerabild demnächst nicht mehr über einen Joystick, sondern über das PLS direkt in der Kamera gesteuert. Und auch die Prometheus-Schleuse wird weiterentwickelt. „Das System macht nicht nur Sinn im Rahmen einer Pandemie, sondern auch bei einer normalen Grippewelle. Unsere Idee lautet, anonyme Messwerte in der Cloud auszuwerten und mit Wetterdaten und Krankheitsständen abzugleichen. So können Betreiber Aussagen über zu erwartende Krankenstände treffen und ihre Personalplanung anpassen, bevor die eigentliche Krankmeldungswelle da ist“, blickt Striegel in die Zukunft.

Beispiel Verladestation und Realbildkamera

Die Eigenständigkeit der Kombination einer Thermalkamera, intelligenter Algorithmen und dem „Digital Plant Gateway“ von WAGO zeigt auch folgendes Beispiel: In einem Verladeterminal überwacht ein solches System einen Abfüllvorgang und erhält dazu das Signal ‚Lkw angeschlossen – Schlauchpackung überwachen‘. Wenn die Kamera nun etwas „sieht“, das sich bewegt, vibriert oder eine Flüssigkeit ausläuft, dann meldet sie das. Gibt beispielsweise zusätzlich ein Gassensor einen Alarm aus, erhält die Kamera über die WAGO Steuerung fokussiert die Kamera nicht mehr nur auf die Verschraubung der Schlauchpackung, sondern überwacht vollautomatisch die Verladestation im Vollbild. So können Fehler und Probleme umfassender festgestellt werden. In einem speziellen Fall konnten Vibrationen als Ursache defekter Dichtungen ermittelt werden. Der Abgleich von Kameradaten mit den Drehzahlen einer Pumpe führten zu Neueinstellung der Pumpenparameter und letztendlich der Beseitigung der Undichtigkeiten.

Digital Plant Gateway

Nur was gemessen wird, kann auch optimiert werden. Getreu diesem Motto wurde bei WAGO das „Digital Plant Gateway“ für die Infrastrukturautomation konzipiert.
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