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Interview 19. Februar 2020
Interview mit Arno Kühn: „Die digitale Transformation braucht Strategie“

Welche Schritte in Richtung Digitalisierung müssen zuerst unternommen werden? Wo besteht Optimierungspotential? Wie sehen die Unternehmensprozesse derzeit aus? Über Chancen und Risiken, Herausforderungen und Zukunftsvisionen haben wir mit Dr.-Ing. Arno Kühn, Leiter der Abteilung Produkt- und Produktionsmanagement am Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik IEM in Paderborn, gesprochen.

Historisch gewachsene Prozesse und Strukturen, demographischer Wandel und die digitale Transformation sind Herausforderungen, die im Zusammenhang mit Industrie 4.0 stehen. Vor welchen künftigen Herausforderungen stehen speziell mittelständische Schaltschrankbauer?

Die Herausforderungen sind vielschichtig. Eine maßgebliche liegt in der kundenindividuellen Fertigung – Stichwort „Losgröße I“. Der Kunde möchte dabei so schnell wie möglich seinen Schaltschrank gefertigt bekommen haben. Das setzt bei der Produktion eine hohe Flexibilität bei immer kürzeren Durchlaufzeiten voraus. Nicht einfacher macht es die sich verschärfende Wettbewerbssituation mit dem Ausland, zum Beispiel mit Osteuropa. Mittlerweile ist es für viele Unternehmen nicht unattraktiv, ihre Fertigungen von Schaltschränken verstärkt dorthin zu verlagern. Zu guter Letzt ist der zunehmende Fachkräftemangel ein herausfordernder Faktor: Gegen große Unternehmen mitzuhalten und kompetente Leute an Bord zu holen, ist für kleine und mittlere Schaltschrankbauunternehmen noch schwieriger.

Die digitale Transformation hält für Schaltschrankbauer viele Chancen, aber auch Herausforderungen bereit.

Dr.-Ing. Arno Kühn

Klingt jetzt aber nicht so, als ob diese Herausforderungen plötzlich um die Ecke kommen …

Nein, all das ist innerhalb der Schaltschrankbau-Branche wie auch in vielen anderen Industriebereichen nicht neu. Dass deutliche Effizienzsteigerungen notwendig sind, ist klar. Die meisten Unternehmen erhalten seit jeher ihre Wettbewerbsfähigkeit, indem sie ihre Wertschöpfungsprozesse verbessern. Aktuell haben wir noch eine ganze Reihe sehr wettbewerbsfähiger Schaltschrankbauer in Deutschland. Das bedeutet aber nicht, dass die Branche sich auf diesem Erfolg ausruhen sollte. Die digitale Transformation ist ein Wandel, der für Schaltschrankbauer viele Chancen, aber auch Herausforderungen bereithält. Es ist also unumgänglich, sich damit zu beschäftigen.

Ein entscheidender Wettbewerbsfaktor betrifft das digitale Engineering. Warum vertrauen noch viele Schaltschrankbauer auf papierbasierte Montagepläne, wenn die Fertigung eines Schaltschrankes ohnehin digital erfolgt?

Die Digitalisierung bietet enorme Effizienzpotentiale für den gesamten Wertschöpfungsprozess: Ich halte digitale Informationen über den Schaltschrank vor, um nachgelagerte Prozesse effizienter zu gestalten. Wenn ich eben den Wettlauf um Effizienzpotentiale meinte, sehe ich einen der größten Hebel in der Digitalisierung der Prozesse und der damit verbundenen Automatisierung. Eine Investition in die eigenen Digitalisierungspotentiale ist für Unternehmen also ein elementarer nächster Schritt. Trotzdem zögern viele Betriebe und greifen auf konventionelle Tools zurück. Das liegt oftmals daran, dass ein typischer Schaltschrankbauer mit seiner mittelständisch geprägten Struktur im Arbeitsalltag gefangen ist. Dabei bleibt oft wenig Zeit für strategische Themen.

Weshalb wird Ihrer Meinung nach der Fokus nicht genug auf die Prozessarbeit gelegt?

Das ist wie bei jeder strategischen Frage, die sich Unternehmen stellen: Wieviel Zeit investiere ich für strategische Überlegungen, die ja keinen direkten wirtschaftlichen Nutzen stiften? Das Hinterfragen und Optimieren meiner Prozesse ist aber elementar, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu sein. Die Konkurrenz, die höher automatisiert, kostengünstiger und schlagkräftiger ist, ist hoch. Ein weiteres zentrales Element in der Digitalisierung ist die Frage, was ich eigentlich digitalisieren möchte, um Prozesse effizient und transparent zu gestalten. Festzuhalten ist dabei aber auch, dass oftmals die nötige Qualifikation bei den Mitarbeitern fehlt, um Prozesse schlanker zu denken und zu gestalten.

Die Digitalisierung bietet enorme Effizienzpotentiale für den gesamten Wertschöpfungsprozess.

Dr.-Ing. Arno Kühn

Wen in einem Unternehmen sehen Sie denn als Treiber einer digitalen Transformation?

Ganz entscheidend ist es, dass das Thema mit hundertprozentigem Commitment bei der Geschäftsführung ankommt. Der Weg in die Digitalisierung ist nicht umsonst. Es ist ein Invest in die Zukunft, den man nicht im Kauf eines Werkzeugs oder einer Maschine ausdrücken kann. Es ist ein Invest in Personalaufwände, in die Zusammenarbeit mit Dritten. Ich denke aber auch, dass im Ökosystem des Schaltschrankbaus alle ein Interesse daran haben, Prozesse möglichst effizient zu gestalten. Schaltschrankbauer können ihre Rolle dadurch stärken – vom Maschinen- und Anlagenbauer über den Komponentenlieferanten bis hin zum Engineering- und Werkzeuglieferanten.

Wie können eine Produktion vernetzt und die daraus entnehmbaren Daten genutzt werden, um nicht nur einen Produktionsschritt, sondern eine ganze Wertschöpfungskette zu optimieren?

Wenn ich möglichst hochautomatisiert fertigen möchte, muss ich diese Informationen frühzeitig bereitstellen. Das kann ich machen, indem ich möglichst früh alle Daten zentral in einem digitalen Modell sammle, um diese in allen nachgelagerten automatisierten Fertigungsprozessen weiter nutzen zu können. Das ist die Idee, wenn man von einem 3-dimensionalen Layout spricht. Die Informationsbasis, die ich an dieser Stelle konsistent schaffe, ist der Schlüssel zur Digital Factory. Letztendlich ist es nichts anders, als einen digitalen Zwilling des Schaltschranks zu erzeugen, der dann später für die gesamte Fertigung, aber auch für den weiteren Betrieb genutzt werden kann.

Konstruktion und Fertigung sind zwei unterschiedliche Bereiche in der Wertschöpfungskette – das Ziel ist am Ende aber das gleiche. Wie können beide „Sprachen“ miteinander besser verknüpft werden?

Hier lasse ich gern das Stichwort einer „fertigungsgerechten Konstruktion“ fallen: Bereits während der Konstruktion des Schaltschrankbaus sollte an die nachgelagerte Fertigung mitgedacht werden. Das funktioniert nur dann, wenn erfahrene Leute aus der Fertigung ihr Wissen und ihren Erfahrungsschatz in die Konstruktion zurückspielen können. In der Fertigung arbeiten oft sehr erfahrene Werker, die über Jahre hinweg Schaltpläne im Detail gelesen und darüber auch die Schaltschränke optimiert haben. Dieses Feedback muss effizient in die Projektierung zurückfließen. So könnten erfahrene Werker direkt in der Konstruktion mitarbeiten.

Diese Art der interdisziplinären Zusammenarbeit klingt in der Theorie sehr zielführend. Wie sieht die Realität aus?

In der Vergangenheit und auch heute ist es in vielen Fällen so, dass die Konstruktionsdaten teilweise vom Kunden geliefert, am Rande noch ein bisschen aufbereitet und dann in die Fertigung übergeben werden. Wenn die Prozesse automatisierter und effizienter gestaltet werden sollen, muss der Entwurf des Schaltschrankes schon bis ins Detail durchdacht sein. Dafür ist die kontinuierliche Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Bereichen essentiell. Über kurz oder lang wird sehr viel mehr als das eigentliche Fertigungs-Know-how in der Konstruktion aufgebaut und verankert sein. In der Fertigung hingegen wird vermehrt das Handling von Maschinen und Produktionssystemen im Vordergrund stehen.

Hundertprozentiges Commitment bei der Geschäftsführung ist entscheidend.

Dr.-Ing. Arno Kühn

Wie lange wird der Transformationsprozess im Schaltschrankbau dauern, wo stehen wir heute?

Wir sprechen von einem digitalen Transformationsprozess – innerhalb dieses Prozesses stehen die meisten Unternehmen gerade noch am Anfang. Es gibt bei sehr vielen Schaltschrankbauern aber bereits Erfahrungen, die ähnliche Transformationsprozesse erzeugt haben. Zum Beispiel die Einführung der Kabelkonfektionierer oder der Bohrautomaten, die bei vielen Schaltschrankbauern schon mehr als zehn Jahre zurückliegt. Der Prozess, der dort gegangen wurde, ist nichts anderes als das, was jetzt auch in anderen Bereichen sukzessive aufgebaut werden muss. Es gibt heute schon Unternehmen, die das digitale Potential sehr weit ausreizen, aber auch solche, die noch wie vor 15 Jahren fertigen – für die wird es schwer.

Inwieweit könnte die digitale Transformation auch Einfluss auf die Fertigungsmethoden nehmen – Stichwörter „Fließfertigung versus Nestfertigung“ und „projekt- oder aufgabenorientierte versus funktionsorientiert aufgebaute, modulare Stromlaufpläne“?

Hier steht die Frage im Vordergrund, um was für einen Schaltschrankbauer es sich handelt. Was für eine Auftragslage hat er? Produziert er kleine Stückzahlen oder größere Serien? Wie können sich Komponentenlieferanten hier anpassen? Tendenziell geht es durch den höheren Automatisierungsgrad stärker in Richtung Fließfertigung. Unheimlich viel Effizienzpotential steckt in der funktionsorientierten modularen Bauweise von Schaltschränken. Vorgefertigte Module können verbaut und entsprechend in großen Mengen produziert werden. Die zentrale Herausforderung dabei ist wieder, dass dafür die vorgefertigte modulare Bauweise in der frühen Konstruktionsphase starten muss. Da die Modularisierung also Auswirkungen auf die Konstruktion hat, sollte sie in enger Abstimmung zwischen Maschinen- und Anlagenbau und Schaltschrankbau erfolgen.

Welche Bedeutung hat diese Entwicklung auf den bestehenden Fachkräftemangel?

Der Kompetenzbedarf verschiebt sich in die vorgelagerten Prozesse. Der Anspruch in der Projektierung und in der Konstruktion wächst, weil ein umfangreicherer Teil an Aufgaben dort erledigt werden muss. Projekte müssen viel stärker vorausgedacht und geplant werden als bisher – in diesen Bereichen werden also weitere Arbeitsplätze entstehen. Die dort eingesetzten Fachkräfte sind dann hochqualifiziert und nicht so einfach zu bekommen. Auf der anderen Seite können in der Fertigung ungelernte Fachkräfte mit digitalen Assistenzsystemen unterstützt und so flexibler eingesetzt werden.

Lebenslanges Lernen gewinnt enorm an Bedeutung.

Dr.-Ing. Arno Kühn

Ist das Ausbildungsniveau für den digitalen Wandel in Deutschland ausreichend?

Genug Ausbildungsstätten haben wir auf jeden Fall, an Optionen mangelt es in Deutschland nicht. Die Frage ist nur, ob die Qualifikation in die richtige Richtung geht. Auch Bildungsstätten müssen sich die Frage stellen, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf ihre Ausbildungsinhalte hat und welche Qualifikation künftig Arbeitskräfte benötigen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit der unterschiedlichen Bereiche ist ein wesentlicher Faktor in Ausbildung und Qualifikation von Fachkräften. Außerdem gewinnt der Ansatz des „Lebenslangen Lernens“ enorm an Bedeutung, damit Mitarbeiter sich am Arbeitsplatz kontinuierlich weiterqualifizieren können.

Zum Schluss weniger theoretisch, sondern eine praxisbezogene Frage: Wie stehen Sie zur Vielfalt an Engineering-Tools, die auf dem Markt sind?

Den Dschungel an Tools bewerte ich erstmal als gut, auch wenn er im Schaltschrankbau gar nicht so groß ist wie in anderen Bereichen. Dass charmante in der Industrie ist, dass es keine Konzentration auf eine Lösung gibt, wie es zum Beispiel bei der Suchmaschine Google der Fall ist. Vielfalt ist ein extrem großer Faktor und Wert. Wettbewerb unter den Tool-Anbietern führt dazu, dass die Werkzeuge stetig verbessert werden. Viele Innovationen, von denen wir heute im Schaltschrankbau sprechen, wären ohne diese Vielfalt gar nicht möglich gewesen.

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