Interview 21. Januar 2019
„Du wirst an Board dafür bezahlt, dass du nachdenkst!"

Interview mit Professor Dr.-Ing. Holger Watter von der Hochschule Flensburg über Theorie und Praxis in der Ausbildung

„Deine Praxis ist die Theorie.“ Diese Aussage wiederholt Professor Holger Watter gern auch ein zweites und drittes Mal während unseres Interviews über die zunehmende Automatisierung der maritimen Schiffstechnik. Wir sitzen in der Mensa seiner Hochschule Flensburg, der er zwei Jahre als Präsident vorstand. Was bringt die Digitalisierung? Was müssen Azubis und Studenten am Ende ihrer Lehrzeit mitbringen, wenn sie in einer von Maritim 4.0 geprägten Welt auf große Fahrt gehen? Und bei aller Liebe zu hochaufgelösten Kurvendiagrammen, vernetzten System und Tabellen auf großen Bildschirmen: Warum sind hierbei analoge Anzeigen aktuell wie nie?

Professor Watter, gehören Analoganzeigen auf Schiffen nicht irgendwann in die Mottenkiste – bei den Möglichkeiten, die modernen Visualisierungen heute bieten?

Watter: Analoge Anzeigen haben immer noch ihre Vorteile. Ich komme in einen Raum und sehe anhand der Zeigerstellung sofort, ob alles in Ordnung ist. Das sind echte ergonomische Vorteile. Digitale Daten lassen sich vom Gehirn wesentlich schlechter erschließen. Früher hatten wir an Bord Skizzenbücher und Diagramme auf Papier – und damit alles sofort im Auge. Heute bekommen Sie am PC wesentlich schlechter den Gesamtüberblick. So teuer Analoganzeigen sind, sie haben nach wie vor ihre Berechtigung.

Hat die Digitalisierung nicht das Ziel, dass alles übersichtlicher, besser analysierbarer und insgesamt einfacher wird?

Watter: Ich glaube nicht, dass die Arbeit einfacher wird. Die Informationsüberflutung ist oft ein Problem. Digitale Systeme leisten ohne Frage wertvolle Unterstützung. Tritt aber ein Fehler auf, muss der Betreiber selbst denken und das Problem lösen. Die Automation kann eben weder Kolbenringe noch Ölfilter wechseln. Bei einem Alarm muss der Mensch ran.

Heißt das, wir brauchen einen Mix aus Automation, Digitalisierung und klarem Menschverstand?

Watter: Im Grunde genommen müssen wir es erreichen, die Menschen auf See mit modernen Werkzeugen zu unterstützen – vor allem in Form sinnvoll aufbereiteter Daten. Hier stellt sich dann die Frage, welche Daten ich sammele, wie ich sie auswerte und was davon an Land geschickt wird. Reeder, Kunde und die Besatzung haben ganz unterschiedliche Interessenlagen. Es gibt Unternehmen, die berücksichtigen in ihrer Ökobilanz beispielsweise den Transportweg und sind auch bereit, für diese Daten Geld auszugeben. Jetzt sind die Reedereien gefragt, dafür die notwendigen Systeme zu installieren. Herrscht an dieser Stelle kein kommerzieller Druck, kommt kein ökonomischer Benefit zurück. Daten zu sammeln, ist kein Selbstzweck.

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Für Professor Holger Watter leisten digitale Systeme wertvolle Unterstützung. Er setzt aber auch auf gesunden Menschenverstand seiner Studenten: „Tritt ein Fehler auf, muss der Betreiber selbst denken und das Problem lösen.“

Sie nannten gerade das Stichwort „Ökobilanz“. Treibt der Spritverbrauch die Digitalisierung?

Watter: Wenn wir uns mal vor Augen führen, dass ein großes, modernes Containerschiff pro Tag den Gegenwert eines Einfamilienhauses an Brennstoff verfeuert, dann hat der Reeder von Haus aus ein Interesse daran, Sprit zu sparen. Das Interesse, auch emissionsmindernd zu fahren, wächst spätestens dann, wenn die Kunden Fragen zur Ökobilanz entlang ihrer Wirtschaftsund Lieferkette stellen. Im Gegensatz dazu, bleibt die Energiebilanz eines Schiffes außen vor, wenn es nur darum geht, Waren möglichst billig von Südostasien nach Europa zu bringen. Das ist leider so. Automation hat dann ihren Platz, wenn sie das Schiff günstiger und effizienter macht. Hier liegt der Mehrwert in der größeren Transparenz der Gesamtabläufe und ihrer Abhängigkeiten.

Was bringen Sie denn Ihren Studenten bei, die später als Techniker an Bord sind?

Watter: Für unsere Studierenden, die am Anfang ihres Berufslebens stehen, sind diese Zusammenhänge gerade im Hinblick auf CO2, Stickoxide und Schwefel enorm wichtig. Wenn wir zu den Emissionskennzahlen noch das energieeffiziente Fahren hinzunehmen, dann sprechen wir vom Verbrauch. Der hängt ebenfalls von vielen Faktoren ab: Beladung, Tiefgang, Route, Trimmung, Geschwindigkeit.

Das lässt sich doch gut messen.

Watter: Ja, aber wir haben es meist mit Messergebnissen zu tun, die ich gern als „verrauscht“ bezeichne. Auf dieser Grundlage nehmen die Ingenieure an Bord ihre Diagnosen vor. Wir müssen unseren Studierenden deshalb beibringen, mit diesen verrauschten Messungen umzugehen. Wann kann es etwa sinnvoll sein, eine Gaußsche Verteilung über die Daten zu legen, um eine sinnvolle Kurve zu bekommen.

Klingt nach Mathe.

Watter: Stimmt – wir müssen unsere Studierenden viel stärker an die Mathematik heranführen. Ich muss Zahlenwerte aus einer Datenwolke heraus richtig interpretieren können – und das geht nun einmal mit statistischen Wahrscheinlichkeiten am besten. Das Problem dabei ist jedoch, dass die meisten keine Lust auf Mathe haben. Was sind Standardabweichungen, was eine Normalverteilung? Die jungen Menschen kommen nach ihrer dreijährigen Ausbildung zum Schiffsmechaniker von Bord – und jetzt kommt der Hochschullehrer und sagt zu ihnen: „Deine Praxis ist die Theorie.“ Vorher haben sie aber gelernt, wie man Kesselwasser zieht, welche Kennwerte für die Öluntersuchung wichtig sind und wo auch mal der Hammer zu schwingen ist. Ich möchte den praktischen Teil nicht missen. Er ist für unsere theoretische Ausbildung wichtig. Ich muss in der Hochschulausbildung jetzt aber andere Schwerpunkte setzen. Dabei steigt der wissenschaftliche Anspruch mit höheren Anforderungen an die Analysefähigkeit der Menschen. Du wirst an Bord dafür bezahlt, dass du nachdenkst! Wir haben das Glück, in Deutschland den Mix aus Praxis und Theorie zu haben. Erst kommt die Schiffsmechanikerausbildung und dann das Studium mit der theoretischen Ausbildung oben drauf. Mit der Digitalisierung haben wir künftig neue Tools, die einen Mehrwert schaffen können, wenn die Besatzung diese auch verstehen. Bei allen technischen Möglichkeiten, gilt es, das Bordpersonal mitzunehmen. Der junge Berufsnachwuchs zeigt dafür sicher eine größere Affinität – hoffentlich.

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Laut Holger Watter müssten Studierende viel stärker an die Mathematik herangeführt werden: „Ich muss Zahlenwerte aus einer Datenwolke heraus richtig interpretieren können – und das geht nun einmal mit statistischen Wahrscheinlichkeiten am besten.“

Holger Watter, danke für das Gespräch.

Wenn wir uns mal vor Augen führen, dass ein großes, modernes Containerschiff pro Tag den Gegenwert eines Einfamilienhauses an Brennstoffverfeuert, dann hat der Reeder von Haus aus ein Interesse daran, Sprit zu sparen.

Prof. Dr.-Ing. Holger Watter, Professor an der Hochschule Flensburg

Kurzinfo zur Person

Schiffs- und Systemtechnik sind die Tätigkeitsschwerpunkte von Holger Watter in seinen Tätigkeiten als Professor an der Hochschule Flensburg. Die Schifffahrt begleitet den gebürtigen Flensburger sein ganzes Berufsleben: Ausbildung zum Marineoffizier, Seefahrtzeiten und Studium während seiner zwölfjährigen Dienstzeit bei der Bundesmarine. Danach ging der zweifache Familienvater in die Lehre und Forschung und gibt sein Wissen zudem in zahlreichen Fachgremien weiter. Watter gehört zum Vorstand des Maritimen Clusters Norddeutschland (MCN) und leitet die Fachgruppe „Schiffseffizienz“.

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