Interview
Wir tauschen Abschätzung gegen echtes Wissen

Ein Interview mit den beiden Netzexperten Hans-Werner Leenen und Martin Breitenbach von der NGN NETZGESELLSCHAFT NIEDERRHEIN MBH

Ganz Deutschland spricht über das Thema Energiewende. Wo liegen hier Ihre größten Herausforderungen?

Hans-Werner Leenen: Wir müssen die richtigen Entscheidungen treffen: Was kommt denn jetzt? Ein Szenario wäre die komplette Elektrifizierung der Netze. Vielleicht will man bald keine fossilen Brennstoffe mehr für die Heizung und für das Tanken, sondern nur noch Strom und Wasser. Dann müsste das elektrische Netz die komplette Versorgung übernehmen. Das wäre mit dem heutigen Netz nicht möglich.

Brauchen wir also neue Netze?

Leenen: Ja, aber je nach Szenario ist der Bedarf ein anderer. In der Vergangenheit war der Ausbaubedarf leicht zu berechnen, weil die Energie in einem von zentralen Großkraftwerken dominierten System nur eine Fließrichtung hatte. Mit zunehmenden dezentralen Energieerzeugern und bidirektionalen Energieflüssen ist die Abschätzung, wie die Netze zukunftsfähig auszulegen sind, schwierig geworden. Wir gehen daher einen anderen Weg: Wir messen und schauen erst einmal, was in unserem Netz wirklich passiert und richten danach unseren Netzausbau aus. Wir tauschen Abschätzung gegen echtes Wissen.

Das heißt Monitoring hat Vorrang?

Martin Breitenbach: Ganz klar. Wir müssen zuerst mehr über unser Netz wissen, um bessere Entscheidungen treffen zu können. Hierfür müssen wir uns zum Beispiel die Lastflüsse genauer anschauen. Wir haben zum Beispiel Ortsnetzstationen, die verhalten sich im Mittelspannungsring unauffällig, das Niederspannungsgerüst dagegen könnte stark belastet sein, weil sich beispielsweise die Erzeugung durch PV-Anlagen mit Verbrauchern innerhalb des Niederspannungsnetzes ausgleichen. Mithilfe von Stromwandlern und Leistungsmessmodulen können wir das erkennen.

Wir müssen zuerst mehr über unser Netz wissen, um bessere Entscheidungen treffen zu können.

Martin Breitenbach, Leitung Softwareprojekt, NGN

Und was fangen Sie mit diesen gewonnen Erkenntnissen dann an?

Breitenbach: Mit dieser Erkenntnis können wir im ersten Schritt, ohne größere Investitionen, unsere Netze im Bereich der Mittel- und Niederspannung anders verschalten und die vorherrschenden Lastflüsse besser verteilen. Im zweiten Schritt können wir anhand der gemessenen und weniger geschätzten Informationen einen bedarfsgerechteren Netzausbau mit einer verbesserten Priorisierung planen.

Geld kostet der Netzausbau trotzdem. Dabei können sich Netzbetreiber ihre Investitionen in neue Kabel über die Netzentgelte zu passenden Rahmenbedingungen wiederholen, digitale Messsysteme noch nicht. Das erschwert doch sicherlich Ihre Digitalisierung?

Breitenbach: In der Tat wird die Investition in Intelligenz nicht richtig von der Bundesnetzagentur (BNetzA) anerkannt. Die Bundesnetzagentur geht in Teilen davon aus, dass wir durch eine Digitalisierung des Netzes langfristig gesehen eine Effizienzsteigerung erzielen und dadurch unser Einkommen haben. Aber: Das Problem sind nicht nur die anfänglichen Investitionskosten, sondern die Folgekosten, die intelligente Lösungen mit sich bringen. Sie führen zu mehr Aufwendungen im Betrieb wie Mobilfunkkosten. Ebenso wird zur Betreuung dieser intelligenten Lösungen qualifiziertes Personal benötigt. Um das Problem zu lösen und die Digitalisierung dennoch vorantreiben zu können, kooperieren wir mit WAGO. Wir haben unter anderem eine Inbetriebnahme-Software entwickelt, die es uns ermöglicht, eine Vielzahl von Systemen schneller in Betrieb zu nehmen und leichter zu betreuen.

Demnach setzt die Bundesnetzagentur falsche Anreize?

Breitenbach: Ich würde allgemein von Investitionshemmnissen sprechen. Nicht nur die Anerkennung und Rückvergütung der Investitionen und Aufwendungen durch die BNetzA sind eine Hürde. Investitionen in Technik zum Messen, Berechnen und Fernübertragen waren bisher teilweise teuer in der Anschaffung und aufwändig im Betrieb. Zudem ist der Umgang und die sinnvolle Verteilung von neuen Daten keine triviale Aufgabe. Dazu kommen die unabsehbaren und daher nicht planbaren Entwicklungen, zum Beispiel im Bereich der EEG-Anlagen und der Elektromobilität. Deswegen war es unser Ziel, mit WAGO erst einmal einen guten Partner zu haben, der eine solide Hardware liefert, die skalierbar und ausbaufähig ist und über eine offene Linux®-Plattform verfügt, über die wir per Software-Updates immer weitere Anforderungen erfüllen können, von denen wir zum Teil heute noch nicht wissen, dass sie auf uns zukommen.

Deswegen war es unser Ziel, mit WAGO erst einmal einen guten Partner zu haben, der eine solide Hardware liefert, die skalierbar und ausbaufähig ist und über eine offene Linux®-Plattform verfügt, über die wir per Software-Updates immer weitere Anforderungen erfüllen können, von denen wir zum Teil heute noch nicht wissen, dass sie auf uns zukommen.

Martin Breitenbach, Leitung Softwareprojekt, NGN

Investitionshemmnisse, ungewisse Herausforderungen in der Zukunft: Steigt für Sie da nicht das Risiko, Fehlinvestitionen zu tätigen?

Breitenbach: Keineswegs, unsere Investitionshemmnisse haben wir bis auf die regulatorischen Probleme weitestgehend beseitigt. Denn ganz gleich welche Entwicklungen sich ergeben, wir sind uns sicher, dass wir mehr Informationen aus den Netzen benötigen und hier keine Fehlinvestition tätigen. Gleichzeitig können wir unsere laufenden Aufwände sogar reduzieren. Denn dank der Software können wir die Systeme mit der Maus parametrieren und brauchen keinen komplizierten Programmiercode. Außerdem werden die Daten jetzt noch innerhalb des WAGO Controllers so aufbereitet, dass sie gleich mehreren Abteilungen im Unternehmen direkt zur Verfügung gestellt werden können. Verschiedene Prozesse wie die Netzplanung und Bearbeitung von Anschlussanfragen können so schneller und genauer abgewickelt werden, da wir weniger mit Annahmen und mehr mit Messwerten arbeiten können.

Das Stromnetz der Zukunft ist dynamisch und besteht aus vielen dezentralen Erzeugern und Verbrauchern. Wie weit ist diese Entwicklung im Netz der Netzgesellschaft Niederrhein (NGN) bereits fortgeschritten?

Leenen: Weit, denn in den ländlich geprägten Netzgebieten wird seit Jahren schon mehr Energie und auch mehr Leistung eingespeist als bezogen. Dort und auch im großstädtischen Netz wächst zudem der Anteil der zum Beispiel mit Kraft-Wärme-Kopplung und Power-to-Heat-Modulen betriebenen Kundenanlagen, deren Verhalten energiemarktorientiert ist, das bedeutet voller Bezug, neutrales Netzverhalten oder maximale Einspeisung. Zu diesen Fahrweisen passt kein herkömmliches Profil.

Belasten denn Ladesäulen für Elektrofahrzeuge bereits das Netz?

Leenen: Ladesäulen für E-Fahrzeuge werden bisher eher sporadisch genutzt, und das genau ist unser Dilemma: Wir würden gerne Erfahrung sammeln, welche Auswirkungen sie auf das Netz haben: Wie sind die Ladezyklen, ist das eher ein Auf und Ab, bei dem sich ein Kabel auch mal wieder abkühlen kann oder haben wir es mit Dauervolllast zu tun? Das merken wir noch nicht.

Breitenbach: Die Elektromobilität könnte uns aber künftig vor große Probleme stellen. Einzelne Ladesäulen können da schon zum Problem werden. Wenn dann aber noch z. B. aufgrund von börsengesteuerten Preissignalen alle Elektroautos in einem kurzen Zeitfenster laden, wird das Netz stark belastet. Die heutigen Netze können diese Anforderungen nur unzureichend erfüllen. Auch zukünftig ist es nicht wirtschaftlich die Netze auf zeitgleiche theoretisch maximale Belastungen auszulegen. Deshalb wollen wir einen Einblick ins Netz bekommen und im weiteren Schritt mit den Teilnehmern eine Kommunikation aufbauen, damit wir künftig regelnd eingreifen können. Ziel ist es, dass auftretende Lasten, wie z. B. Ladevorgänge von Elektroautos zeitlich verschoben werden können und die Netze so über die Zeit besser ausgelastet und nicht temporär überlastet werden. Auch dies können wir mit der Software auf dem WAGO Controller erreichen.

In einem dynamischen Netz muss auch dynamisch gegengewirkt werden. Was halten Sie von Weitbereichsregelung? Diese Methode erlaubt es, von einer zentralen Stelle aus, wie dem Umspannwerk, alle Unterstationen zu steuern.

Leenen: Ich glaube, dass es in diese Richtung geht. Aber auch um eine Weitbereichsregelung optimal nutzbar zu machen, müssen wir unser Netz besser kennen. Mit einem Regler verändere ich manchmal bis zu 200 Unterstationen. Da müssen wir die Punkte im Netz mit den höchsten und niedrigsten Spannungen kennen. Der höchste und der niedrigste Wert wechselt aber mit der Uhrzeit. Wenn zum Beispiel die Sonne scheint, sind die Punkte mit Photovoltaikanlagen stark belastet und es herrscht eine hohe Spannung vor, wenn dann abends die Elektroautos laden, wird die Spannung anderenorts abgesenkt. Daher ist eine gewisse Dichte an Messpunkten vonnöten. Das bedeutet aber nicht, dass wir alle Punkte messen müssen. Ab einer gewissen Dichte von Messstellen können wir genügend genau auf weitere nicht gemessene Punkte im Netz Rückschlüsse erzielen und so eine effiziente Weitbereichsregelung aufbauen.

Breitenbach: Da dies nicht von heute auf morgen geht, wollen wir uns der Weitbereichsregelung iterativ nähern: Bevor wir eingreifend wirken, müssen wir das Netz erst mal auf die neue Methode vorbereiten. Das könnten wir zum Beispiel im Rahmen der Wartung unserer Ortsnetzstationen, hier könnten wir die Trafostufung anpassen. Sind nur zwei Ortsnetztransformatoren schlecht eingestellt, kann der Regelbereich für die Weitbereichsregelung stark eingeschränkt sein. Leider können wir dies mit der heutigen Messtechnik, meist Dreheisenmesswerk mit Schleppzeiger, nicht leisten. Daher sind die Informationen, die das WAGO System liefert, nicht nur für den Betrieb, sondern auch für die Vorbereitung einer Weitbereichsregelung nötig.

Binden Sie die Cloud in Ihr Modernisierungskonzept ein?

Breitenbach: Bisher nicht, und für den Netzbetrieb halte ich die Cloud auch für ungeeignet. Wenn jetzt Daten vieler kritischer Systeme in die Cloud übertragen werden, werden diese zentralisiert. Ich finde es aber ganz gesund, dass es viele Versorgungsnetzbetreiber gibt, die alle für sich unterschiedliche lokale Systeme betreiben. Je dezentraler die Ansätze hier sind, desto sicherer sind meiner Meinung nach auch unsere Netze. Bei unidirektionaler Informationsübertragung setzen wir dagegen in einigen Bereichen bereits Cloud-Lösungen ein. Ich könnte mir vorstellen, dass dies hier zunehmen wird.

Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Irgendwann haben Sie dann Ihr Netz optimiert und an den passenden Stellen verstärkt. Und dann kommt zum Beispiel stärker als geplant die Elektromobilität und Sie müssen wieder neue Kabel legen. Sie werden also selbst mit bester Technik nie einen Endpunkt erreichen, oder?

Breitenbach: Das stimmt, wir können durch Elektronik und Software nur Optimierungen erreichen. Die Kapazität der Leitungen und Trafos stellt ab einem gewissen Punkt einen begrenzenden Faktor dar. Aber wir wissen durch die Digitalisierung unseres Netzes, ob und wie viele Reserven wir noch im Netz haben, sodass wir Maßnahmen gezielter planen können. Außerdem wird uns die Weitbereichsregelung dabei helfen, das Spannungsbandproblem zu reduzieren, sodass wir hierfür weniger ausbauen müssen. Außerdem ist es möglich, durch ein Demand-Side-Management und Maßnahmen wie beispielsweise ein optimiertes Blindleistungsmanagement die Belastung der Betriebsmittel zu reduzieren.

Kurz und knapp zum Ende: Welche sofort wirksamen Vorteile bringt es Ihnen, digitale Technik für Netzbetrieb und -planung einzusetzen?

Leenen: Es gibt fünf Punkte, die uns sofort weiterhelfen, wenn wir digitale Technik einsetzen:

1. Der Betriebsmeister kann die Umschaltung besser planen.
2. Der Netzplaner kann den punktuellen Ausbau einem umfänglichen vorziehen.
3. Die Entstörung läuft durch mehr Informationen schneller.
4. Wir können KWK- und EEG-Anlagen sowie Ladesäulen besser einschätzen.
5. Wir können eigene Profile ermitteln.

Die NGN NETZGESELLSCHAFT NIEDERRHEIN MBH

Die NGN ist eine Tochter der SWK Stadtwerke Krefeld AG und ist Netzbetreiber für Krefeld, Straelen und Wachtendonk. In Krefeld ist die NGN zuständig für sämtliche elektrische Netze bis in die 110kV-Hochspannungsebene, in den anderen Netzgebieten für die Mittel- und Niederspannung. In Krefeld betreibt die NGN zudem das Wasser-, Gas- und Fernwärmenetz. Die NGN beschäftigt rund 350 Mitarbeiter.

Hans-Werner Leenen

Hans-Werner Leenen ist Prokurist und Leiter Asset-Management und Planung bei der NGN. Er ist auch für das Team Technologie und Standards verantwortlich.

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Martin Breitenbach

Martin Breitenbach hat die Aufgabe, neue Technologien und Standards einzuführen. In dieser Funktion leitet er für die NGN das Softwareprojekt mit der Firma WAGO. Er hat nach seinem Studium der Elektrotechnik noch einen Master in Energiewirtschaft gemacht und gilt als Experte für die Digitalisierung von Ortsnetzstationen.

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Effizienz in der Heizzentrale

Modernisierung des Fernwärmenetzes: Die Stadt Flensburg baut für die dezentrale Steuerung und Anbindung an die Fernüberwachung auf WAGO-Technik.

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Weniger Ausfallzeiten

Im Verteilnetz von RheinEnergie kommen WAGO-I/O-Steuerungen zum Einsatz. Mit Erfolg: Fehler können schneller auf eine Netzstation eingegrenzt werden.

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Mehr aus dem Bereich Energietechnik

Ganz gleich, ob Digitalisierung, regenerative Energieerzeugung oder die Integration dezentraler Einspeiser – WAGO bietet Lösungen für jede Herausforderung der modernen Energiewirtschaft.

Intelligente Energienetze

Die Automatisierung von Energienetzen hat viele Vorteile. Einer davon ist die Möglichkeit der Fernschaltung. Die passenden Lösungen zur Umsetzung bietet Ihnen WAGO.

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Regenerative Energieerzeugung

Eine zuverlässige und sichere Energieversorgung ist das Ziel, das es zu erreichen gilt. Mit Produkten und Lösungen von WAGO gestalten Sie die Energiewende nachhaltig erfolgreich.

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